Die vergessene "Muttersprache"

Josef Winkler: Muttersprache. Roman. Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1984 (suhrkamp taschenbuch 1044).
Josef Winkler: Das wilde Kärnten. - 6. Aufl. - Suhrkamp: Frankfurt/Main, 2020 (suhrkamp taschenbuch 2477).

Noch immer laufen meine Gedanken und meine Lektüre dem Urlaub in/bei Villach nach. Wenngleich ich dort meistens im Wald herumgelaufen bin, habe ich auch einen Tag für einen Spaziergang in die Innenstadt genutzt. Dabei kam ich bei einem Plakat von Julius Deutschbauer vorbei. Auf dem Plakat: zwei verdrossen/ernst dreinblickende Männer, in ihrer Mitte ein an den Hinterbeinen aufgehängtes, geschlachtetes Schwein. Überschrift: "Julius Deučbauer und Paul Ropač danken für Ihre Anteilnahme". Am unteren Ende des Plakats ein Zitat:

"Die Blutflecken von der Schweineschlachtung werden sofort mit Sägespänen überzuckert, sie dürfen die Sommerfrischler nicht erschrecken. Ihre nackten Füße treten morgens auf den Bettvorleger eines Schafsfells. (Josef Winkler: Muttersprache. In: Das wilde Kärnten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 838.)"

Ich beschließe, dass ich "Das wilde Kärnten" als Urlaubslektüre kaufen muss. Beim Morawa in der Innenstadt haben sie es nicht, obwohl Josef Winkler wenige Tage zuvor den Franz-Kafka-Preis entgegengenommen hat. Beim Thalia am Hauptplatz werde ich fündig. Kurz darauf posiert das Buch an der Drau. 


"Das wilde Kärnten" an der nach Regenfällen wilden Drau. Foto: A.Ghoneim

Sehr viel davon lese ich zunächst nicht, weil ich ja den Allende-Roman (welch ein Gegensatz zu Josef Winklers Romanen!) lesen und in Kärtnen lassen will. Jedenfalls ist das obige Zitat auch in meiner Ausgabe auf Seite 838 zu finden.

Auf der Rückfahrt nach Wien beginne ich die Lektüre von "Muttersprache". Schon die Geburt des Protagonisten Jakob ist mit Erinnerungen an "Kindertotenmasken" gespickt, Puppen und Totenmasken prägen die ersten Seiten des Romans. Die nahezu quälenden Beschreibungen des Autors verdichten sich zu einer Erzählung, die schnell zum jungen erwachsenen Protagonisten wechselt, der sich eine lebensgroße Plastikpuppe kauft. Seine Vermieterin findet diese - und so fällt auch absurder Humor in den Roman ein. Ich beginne, mich an eine Schmidt-Dengler-Vorlesung zu Josef Winklers Muttersprache zu erinnern.

Zu Hause angekommen, suche ich nach den "Bruchlinien", einem Sammelband mit Vorlesungen Wendelin Schmidt-Denglers zur österreichischen Literatur. Das Buch sollte eigentlich in meinem Bücherregal sein, aber ich kann es nicht finden. Vielleicht hatte ich es nach Ägypten mitgenommen, als ich dort Lektorin war... Was ich hingegen in meinem Bücherregal finde, ist eine Ausgabe von Muttersprache von 1984. Ich beschließe, in dieser Ausgabe weiterzulesen, schlage sie auf und finde einen Stempel im Buch. Demnach gehört es meinem Freund Hans, und somit weiß ich wenigstens, wem ich dieses Buch nach der Lektüre (zurück)geben werde.

Die Erzählungen und Beschreibungen in "Muttersprache" bewegen sich ohne Chronologie durch die (physischen) Entwicklungsstadien des Protagonisten - vom Fötus bis hin zum Protagonisten als Knecht auf einem Bergbauernhof, der gleichzeitig Geschichten sammelt, sich manchmal in Frauenkleider hüllt und auf seiner Schreibmaschine schreibt. Hier ein Blick auf ein abgebrochenes Studium:

"Da er es gewöhnt ist, täglich vierzehn Stunden zu arbeiten, macht es ihm nichts aus, wenn er von nachmittags vier oder fünf bis in die späte Nacht hinein mit dem Germanistik- und Philosophiestudium zu tun hat, in Vorlesungen geht und mit Studenten über Literatur redet, aber wieder ist es die Literatur, die ihn aus dem Hörsaal treibt, denn gerade die professionellen Sekundärliteraten könnten ihn von der Literatur, vom Lesen der Romane und Erzählungen, vom Schreiben abbringen." (Muttersprache 1984, S. 300)

Immer wieder wechselt die Erzählperspektive zwischen "er" (er selbst, einer seiner Söhne, ...) und "ich", doch trotz dieses Verwirrspiels wird deutlich, dass weiterhin über dieselbe Person geschrieben wird. Kritik an oft gewalttätiger Autorität, am Katholizismus, an ewiggestrigen Dorfbewohnern sind eingewoben in manchmal von der Realität nicht allzuferne Phantasmen. 

Josef Winkler lehrt auch an der Universität Klagenfurt (AAU). 2019 wurde im AAU-Blog ein Interview mit ihm veröffentlicht. "Sie haben für Bücher, die oft beschwerlich und düster wirken, die wichtigsten Literaturpreise erhalten. Sie bleiben beim Thema?", wird er dort gefragt. Seine Antwort: "Mein Thema ist ohne Frage das Land, wo ich aufgewachsen bin: der Katholizismus, die Rituale, die Dorfgeschichten, das Leben und Sterben auf dem Bauernhof, aber ich war auch viel unterwegs, in Indien, in Mexiko, in Italien …"

Ja. "Domra", eines der Indien-Bücher von Josef Winkler ist auch in meinem Bücherregal. Vielleicht sollte ich es auch einmal lesen, das habe ich noch nicht getan. Inzwischen sehe ich mir vielleicht auch noch genauer die schöne ORF-Topos-Zusammenstellung an, die 2023 ans Netz ging: "Die Heimat fürchten lernen. Josef Winkler ist 70".

Verfasserin: Andrea Ghoneim

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