Unzeiten in der Auszeit

Julio Cortázar: Unzeiten. Erzählungen. Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf. Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1990.

Hurra, ich darf wieder zur GVA fahren! GVA steht für "Gesundheitsvorsorge Aktiv". Das Programm dient unter anderem dem Muskelaufbau um den Stütz- und Bewegungsapparat zu unterstützen. Früher gab es Ähnliches - allerdings mit weniger Sport - unter dem Namen "Kur". Ich darf auch wieder in Bad Vigaun sein, genauer gesagt im dortigen Medizinischen Zentrum

Die GVA dauert drei Wochen, und entsprechend viel muss eingepackt werden. Natürlich dürfen auch Bücher im Gepäck nicht fehlen. Ich packe ein Reclam-"Heft" ein ("Rameaus Neffe" von Denis Diderot in einer Übersetzung von Goethe), einen Roman von Karel Čapek und "Unzeiten" (im Original "Deshoras"), Julio Cortázars letzten Erzählband.

Zunächst versuche ich mich während der Wartezeiten auf die Trainingstermine und Behandlungen am Reclam-Band. Die Unterhaltung zwischen dem "Ich" und dem Neffen des Komponisten Rameau ist vergnüglich, aber in gleichem Maße philosophisch, und ich verliere immer wieder den Faden. Abends zu lesen ist in der ersten Woche fast unmöglich: Das körperbetonte Programm und die neue, wunderschöne Umgebung machen müde, und mir fallen nach wenigen Seiten die Augen zu.

Vielleicht geht es mit Cortázars "Unzeiten" doch besser? Die erste Erzählung, "Ende der Etappe", hält mich gleich in Atem. Eine Frau macht eine Pause bei einer Autofahrt, besichtigt dabei eine Ausstellung und findet das Haus, das auf den Bildern in immer neuen Variationen zu sehen ist. Die Erzählung ist selbst wie eines dieser Bilder und das Ende zeichnet sich bereits durch den Titel ab. Nichtsdestotrotz wird genug Spannung aufgebaut, die mich in Atem hält, abgesehen davon, dass die Gemälde durch Cortázars Erzählkunst förmlich aus dem Text heraustreten.


Der Erzählband von Cortázar sonnt sich in Bad Vigaun. Foto: A.Ghoneim

Die Spannung, gepaart mit phantastischem Realismus zieht sich durch weitere Geschichten. "Satarsa" beginnt mit einer Variation des Palindroms "atar la rata" und dem Kampf von Flüchtlingen mit Ratten, die groß und gefährlich sind und schon einem kleinen Mädchen die Hand abgefressen haben. Zugleich leben die Geflüchteten aber von den Ratten, die sie einfangen und an Labre verkaufen. Wenn man das Palindrom in den Plural setze, so Lozano, der Führer der Rattenjäger, ergäbe sich, rückwärts gesprochen, Satarsa la rata, und Satarsa sei "ein Name, und alle Namen isolieren und kennzeichnen." (S.45) Was das bringe, fragen die anderen - und damit, und mit dem Plan der Gruppe, die Ratten in ihrer Behausung aufzusuchen und auszuräuchern, lege ich mich in ein warmes Bett mit Heilräutern und habe 25 Minuten Zeit über eher befremdlich Bedrängendes zu meditieren. Die Heilkräuter haben mir dennoch gutgetan. Leider habe ich mir während der Packung das Ende der Geschichte ähnlich vorgestelt, wie es war. Cortázars Erzählkunst übertraf meine Imagination allerdings in der Dichte und Plastizität der Bilder und im Ausmalen von Details.

Die titelgebende Erzählung "Unzeiten" ist hingegen die Geschichte einer Jugendliebe. Sie endet so zwischen Vorstellungs- und/oder Realitätsebenen, dass die Leserin nochmals nachlesen muss um zu sehen, wie nun das Ende aussieht. Und vielleicht sieht es ja auch nach jeder Lektüre anders aus?

Mein Favorit ist "Tagebuch für eine Erzählung", eine tatsächlich in Tagebuchform abgefasste Geschichte, die am "2. Februar 1982" (S. 129) beginnt und am "28. Februar" (S. 168-170) endet. Der Autor wäre, so bekennt er am Anfang, lieber Adolfo Bioy Casares.

"Ich möchte Bioy sein, weil ich ihn als Schriftsteller immer bewundert und als Menschen geschätzt habe (S.129)", und, nach längeren Überlegungen zum Verhältnis zwischen den beiden, die Erklärung, er wäre gern Bioy, 

weil ich sehr gern über Anabel so schreiben möchte, wie er es getan hätte, wenn er sie gekannt und eine Erzählung über sie geschrieben hätte. In diesem Fall hätte bioy so von anabel gesprochen, wie mir das immer unmöglich sein wird, er hätte sie von nahem [sic] gezeigt, ihr tiefstes Inneres, und zugleich hätte er diese kühle Distanz gewahrt [...]" (S.130)

Cortázar erzählt natürlich über Anabel, während er vorgibt, es nicht tun zu können. Ein schöner Kunstgriff, der auch im Rahmen einer Abschlussarbeit reflektiert wird.

Viel ließe sich noch schrieben über den schönen Erzählband, den ich heute Abden in das Bücherregal für die Kur- und Reha-Gäste stellen werde. Ich schreibe aber nichts mehr, denn das Wetter ist strahlend schön, und ich werde den Nachmittag mit einem Spaziergang an der Taugl verbringen und danach noch der hauseigenen Theme einen Besuch abstatten.

Morgen früh muss ich abreisen aus dem schönen Bad Vigaun. Ich bin traurig - aber ich freue mich auch wieder auf Wien.

Verfasserin: Andrea Ghoneim


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