Sich bewegen: Nobelpreisträgerin trifft Landvermesser

Henry David Thoreau: Vom Spazieren. Ein Essay. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Zürich: Diogenes 2001 (Kleine Diogenes Taschenbücher 70168).
Olga Tokarczuk: Unrast. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Zürich: Kampa 2021.

Das Büchlein von Thoreau bekam ich bei einem Spaziergang als Geschenk. Ich war nicht die erste, die damit beschenkt worden war, innen (S.1/Schmutztitel) gibt es eine Widmung aus 2001. Damals war ein Torben der Beschenkte. Er wünschte dem Text wohl mehrere Leser*innen und gab "Vom Spazieren" an einen Ort, von dem es weiterreisen konnte.

Der englische Originaltext, Walking, erschien im Juni 1862 im Atlantic Magazine und kann auf dessen Website wieder und weiterhin gelesen werden.

Ich habe mit Thoreau meine Schwierigkeiten. Ich hatte mir Walden gekauft, als ich in Boston war, recht nahe beim Walden Pond, wo der "Gottvater aller Aussteiger" zwei Jahre lang gelebt hatte. Ich fand Thoreau zu selbstgerecht, auch zu wenig schlüssig in seinen Argumentationen.

"Vom Spazieren" habe ich wohl daher einige Wochen ungelesen in meinem Rucksäckchen herumgetragen. Das wunderbare Format des Diogenes-Verlags macht das möglich. Klein, leicht, handlich. Dennoch entließ ich das Bändchen nach einiger Zeit in mein Bücherregal. Neulich holte ich es wieder hervor. Wohnungswechsel war angesagt: Ich hütete die Katzen einer Freundin. Dabei wollte ich leichtes Gepäck und fand zudem, dass der Text bei der Freundin gleich eine neue Heimat finden könnte. Leider fand ich - abgesehen von den ersten Seiten - wenig zum Spazieren darin. Immerhin schreibt er da, dass die Handwerker und Ladenbesitzer (an die er bei seinen Spaziergängen denkt) zu lange säßen, "als wären Beine nicht zum Stehen und Gehen, sondern zum Sitzen gemacht" (S.13) und darin pflichte ich ihm bei. Dass er dann findet, "diesen Menschen gebühre eine gewisse Anerkennung, weil sie ihrem Leben schon längst ein Ende gemacht haben" (ebd.) gehört wieder zu diesen Aussagen von Thoreau, mit denen ich Probleme habe, weil ich ihn überheblich finde. Dass er dann (ab S.33) beginnt, darüber zu philosophieren, dass er gern nach Westen geht - und daraus gleich schließt: "Dorthin bewegt sich die ganze Nation, und ich möchte hinzufügen, dass sich der Fortschritt der Menschheit allgemein von Osten nach Westen bewegt hat" (S.37) macht ihn mir schon wieder unsympathisch. Dann ergeht er sich in seiner Philosophie der "wildness", und es kann ihm gar nicht wild genug sein, bis er dann doch findet, dass der Farmer "die Wiesen erlöst" (S.68), weil er Sümpfe trockenlegt. Thoreau hat das Land für ihn vermessen.

Ich lese das Thoreau-Büchlein pflichtschuldigst zu Ende, aber es macht mir keine rechte Freude - und ich beschließe, es nicht bei meiner Freundin zu lassen. Was werde ich wohl damit tun? Bei der Freundin steht ein Buch von Olga Tokarczuk, der 2019 (rückwirkend für 2018) der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war. "Unrast" heißt es, eigentlich kein einladender Titel. Dennoch mache ich es mir mit dem Buch auf dem Balkon der Freundin gemütlich.

Thoreaus "Vom Spazieren" und Tokarczuks "Unrast" auf einem Balkon in Wien. Foto: A. Ghoneim

Kurze Kapitel - wenn man die sehr ungleich langen Abschnitte des Buches überhaupt Kapitel nennen kann - ein kleiner Einblick in die Kindheit, und ich denke schon, dass die Autorin sich bereits an Autobiographischem versucht. Aber sie tut dies nur kurz, in einem Blick auf den Fluss Oder aus Kinderaugen, als sie Tokarczuk "riesig" vorkommt. "Sie schenkte mir keine Beachtung, war mit sich beschäftigt, ein unstetes, wanderndes Gewässer, in das man nie zweimal steigt, wie ich später lernte." (S.9) Hier bewegt sich also eher das Gewässer, als das Kind, das es ansieht, aber: 

"Als ich so in den Anblick der Strömung versunken auf dem Flutwall stand, wurde mir klar, dass aller Gefahren zum Trotz, das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen kann." (S.10)

Das könnte eine Art Motto für das Buch sein, das die Leserin in Anatomiemuseen und -ausstellungen entführt, Reiseplaudereien mit ihr teilt, sie an der Entwicklung einer Reisephilosophie teilhaben lässt und vieles mehr. Manche Geschichten werden im Laufe des Buches wieder aufgenommen, andere sind einfach ein Stein in dem Mosaik, das das Werk darstellt. Wenngleich manches zusammenhanglos zu sein scheint, fühle ich mich immer wieder neugierig darauf, wie es weitergehen wird. Das Buch hat sich nach dem Vormittag auf dem Balkon zu meiner fixen Bettlektüre entwickelt und ich lese auch die wohl den Titel bestimmende Geschichte mit der Überschrift "Unrast" (S. 262-296) dort. Dieser Abschnitt hat etwas Bizarres, Alptaumhaftes, und den Inhalt wiederzugeben, sagt sehr wenig über das aus, wie es geschrieben ist, was beschrieben wird. Im Folge-Abschnitt "Was die vermummte Läuferin sagte" wird eine mögliche Erklärung für die Unrast aus der Geschichte davor gegeben: Wenn du dich bewegst, entgehst du dem Bösen (S.297). "Die Welt soll mit Hilfe von Strichcodes festgenagelt, jeder Sache ein Etikett verliehen werden, man soll wissen, was für eine Ware etwas ist und wie viel sie kostet. [...] Beweg dich, beweg dich. Gesegnet, wer geht." (S.299)

Ich werde mit der Geschichte zu diesem Buch nicht fertig - und wahrscheinlich ist es auch das, was die Faszination des "Romans" (lt. Klappentext) von Olga Tokarczuk ausmacht. Wenn ich Freundinnen von dem Buch erzähle, erzähle ich immer etwas anderes. Und nun, ehe sich eine weitere Facette aus dem Werk in meinem Kopf entfaltet und mich aus dem Konzept bringt, beende ich diesen, meinen Text über die beiden Texte zur Bewegung. Mit der Lektüre habe ich mich immerhin von der Wohnung mit den Katzen in meine Wohnung bewegt, auch das Buch ist also ein wenig herumgekommen. Nun wird es mich wieder verlassen, da die Freundin es noch gar nicht gelesen hat.

Verfasserin: Andrea Ghoneim

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