Lesen, gehen, Bäume sehen

Umberto Eco: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß. [Streichholzbriefe 1990–2000.] Ausgew., übers. und eingerichtet von Burkhart Kroeber. München: Carl Hanser, 2000.

Eigentlich wollte ich in diesem Urlaub ja nach Kairo fahren. Aber dann rückte die Urlaubszeit zu schnell zu nahe heran, die Flüge waren teuer und ich bekam Panik, dass ich in einem kurzen Urlaub eh nicht die Zeit hätte, all das zu tun, was ich in Kairo gern tat und wieder tun wollte. Immerhin habe ich aber Urlaub - und mache das, was schnell und einfach geht: Ich bleibe in Österreich.

Ein Zimmer in der Pension Nordwald war schnell gebucht. Ohne die Hilfe des netten Gastgebers hätte ich allerdings für die Anreise nach Moorbad-Harbach länger gebraucht als für eine Reise nach Ägypten. Der öffentliche Verkehr funktioniert nur bis Gmünd so richtig gut. Dort wurde ich abgeholt.

Da der Wetterbericht für meine wenigen freien Tage nicht sonderlich gut war, habe ich gleich mehrere Bücher im Gepäck. Eines davon ist "Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß" von Umberto Eco. Ich habe es im Jahr 2001 von einem Freund als Geschenk erhalten. Er schrieb als Widmung hinein: "Die Überwindung der Mittelmässigkeit ist die Voraussetzung allen Gelingens". Mir ist zwar - so finde ich - in meinem Leben einiges gelungen, die Mittelmäßigkeit habe ich allerdings nicht überwunden. Oder manchmal doch? 

Das Buch von Umberto Eco, mit Blick von einem Balkon der Pension Nordwald. Foto: A. Ghoneim

Jetzt "besteige" ich den Nebelstein, der mit seinen knapp über 1000 Metern jedenfalls ein mittelmäßiges Wanderziel ist. Ich freue mich dennoch übermäßig, dass das Wetter annehmbar ist, und dass die Wälder im Nordosten des Waldviertels mit ihren hohen Bäumen Kraft ausstrahlen. 

Umberto Ecos relativ kurze Kolumnen aus "L'Espresso", die für das "Derrick"-Buch ausgewählt wurden, sind gute Lektüre nach dem Wandern. Außerdem ist es spannend, sich anzusehen, wie sich diese Texte fast drei Jahrzehnte später lesen. Anders als viele andere Kolumnen "funktionieren" diese Texte weiterhin. Das legt auch Alfred Pfabigan 2014 im Standard dar, anhand von Ecos Kolumne "Migrationen", die erstmals 1990 erschienen ist. Sie ist der erste Text im vorliegenden Buch.

Im darauf folgenden Text mit dem Titel "Kosovo" (S.48-56) schreibt Eco über die "Frage der Nützlichkeit des Krieges". Er vergleicht dabei "alte Kriege", in denen es Überraschungseffekte geben konnte, mit neuen Kriegen, in denen Informationen solche Überraschungen ausschalten. Auch wenn man durch Krieg gegen Verbrechen einschreiten könne, wäre Krieg vielleicht

eine stumpfe Waffe. Vielleicht liegt die einzige Hoffnung in der menschlichen Habgier. Wenn der alte Krieg die Kanonenhändler reich machte [...] stürzt der neue Krieg, auch wenn er es erlaubt, einen Überschuß an Waffen abzusetzen, eine Vielzahl von Industrien in die Krise: die des Luftverkehrs, des Tourismus, der Medien selbst (die Werbeeinnahmen verlieren) und allgemein die ganze Wohlstands- und Überflußproduktion. Wenn die Waffenindustrie einen Spannungszustand braucht, braucht die Wohlstandsindustrie Frieden." (S.56)

Wie sehr gilt das heute (noch)? Gerade scheint die Waffenindustrie im Zuge allgemeiner Aufrüstung zu florieren. Das Ende des Textes, in dem es heißt, die Krieg Führenden würden letztlich "nicht zögern, ein bißchen Gesicht zu verlieren um den Rest zu retten" (S.56), gibt mir Hoffnung.

Bei regnerischem Wetter wandere ich auf der "Via Verde" über die tschechische Grenze und zum Urwaldschutzgebiet "Hojna Voda". Dort sind die Bäume noch mächtiger, ich fühle mich eingebettet in ein grünes Meer und trinke aus einer Quelle, die ich für das Hojna Voda halte, die es aber gar nicht ist.

Abends lese ich den titelgebenden Text "Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß" und finde ihn mäßig beeindruckend. Er basiert auf einem Artikel von Omar Calabrese zu "La passione nel Serial TV" und schlussfolgert, Derrick ließe "injedem von uns die Mittelmäßigkeit wieder aufblühen, die wir glaubten verdrängt zu haben" - und das gäbe uns ein "gutes Gefühl" (S.100).

Ich bekomme ein viel besseres Gefühl, als ich sehe, dass das Buch auch etliche Texte über Bücher bzw. über das Lesen und Schreiben enthält. So zeigt er in "Bücher zum Nachschlagen und Bücher zum Lesen" (S. 117-120) einen unbestreitbaren Vorteil des gedruckten Buches auf: wir könnten es "in der von uns gewünschten Kopfhaltung lesen", nicht in der von einem Computerbildschirm aufgezwungenen Starrheit (S.118). In "Bücherlesen mit den Fingerkuppen" widmet sich Eco der Bibliothek, auch als Ort, der "Bücher für uns liest". Er schreibt von den ungelesenen Büchern im eigenen Bücherregal, die man eines Tages in die Hand nimmt und entdeckt, dass man schon fast alles kennt, was darin steht (S.121). Ich bin eigentlich sicher, dass ich diesen Text schon kannte ;-) Ecos ironische Hypothese: Der Inhalt sei durch Berührungen in uns übergegangen, z.B. beim Umstellen oder Abstauben der Bücher.

Und es gibt weitere Texte z.B. über den Hypertext (S.123-126), oder über das Buch als "Built-in Orderly Organized Knowledge, abgekürzt BOOK" (S.137) - in "Haben wir wirlich so viel erfunden". Mit "BOOK" greift Eco darin eine Art WWW-Legende auf: Niemand weiß mehr genau, woher die ironische Beschreibung des Buches als B.O.O.K kommt. Perplexity.ai verweist auf einen Text, in dem angegeben wird, der Text, der im WWW kursiert, "appeared for first time in a text by R.J. Heathorn, written in 1962". Hach, ich verliere den Faden, das Geschichtchen, in dem das Buch so erklärt wird, als sei es eine neue Erfindung, ist einfach zu schön - und ich kenne es auch schon recht lang. Hier ist ein (ganz schlechtes) Foto davon, wie Eco darüber schreibt. 


Umberto Eco: "Haben wir wirklich so viel erfunden?" in "Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß", S.137

So, wie ich heute und hier nun eher abrupt meinen Blogartikel beenden werde, musste ich das Buch dann relativ plötzlich zurücklassen, daher auch das schlechte Foto von der Buchseite. Die Rückfahrt von Moorbad-Harbach habe ich nämlich ganz mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigt: Rufbus von Hirschenwies (Ortsteil von Moorbad-Harbach), Bus nach Weitra, anderer Bus nach Gmünd und dann noch mit dem Zug. So war ich mehr als vier Stunden unterwegs...

Das "Derrick-Buch" von Umberto Eco blieb in der Pension Nordwald. Eigentlich tut es mir Leid, es zurückgelassen zu haben. Möge es dort viele Leser*innen finden - oder jedenfalls einige, die sich für den einen oder anderen Text begeistern können.

Verfasserin: Andrea Ghoneim

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