Bitterfelder Bogen und Pernerstorfer Steg

Monika Maron: Bitterfelder Bogen. Ein Bericht. Mit Fotografien von Jonas Maron. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2012. 

Auch dieses Buch bewohnt mein Bücherregal schon seit einigen Jahren. Gekauft habe ich es, weil ich 1989/90 in einer Vorlesung von Wendelin Schmidt-Dengler über Monika Marons Roman "Flugasche" gehört hatte. Den Roman hatte ich nicht gelesen, aber der Name der Autorin war mit im Gedächtnis geblieben, ebenso (aus der gleichen Vorlesung) der "Bitterfelder Weg". Auf diesem Weg sollten Künstler*innen in die Produktion gehen und Arbeiter*innen schreiben und anderweitig künstlerisch tätig werden. 

Monika Maron war nicht Teil des Bitterfelder Wegs, sondern Journalistin in der DDR. Sie hatte in den 1970ern Bitterfeld besucht, "war erschüttert angesichts des Drecks, der giftfarbenen Rauchfahnen über der Stadt" (Bitterfelder Bogen, S.22f) und wollte eine Reportage schreiben. Dies wurde von der DDR-Zensur verhindert, und schließlich erschien der Roman "Flugasche" 1981 in der BRD.

"... was Richtiges machen" in den 1970ern und 80ern

Mitte der 1970er Jahre gründete "ein angehender Ingenieur namens Reiner Lemoine [...] ein sozialistisches Ingenieurskollektiv, das sich den Namen Wuseltronik gab" (Bitterfelder Bogen, S.13). Dies geschieht unweit vom damaligen Arbeitsplatz von Monika Maron, allerdings war das Büro der Journalistin am Alexanderplatz, also in Ostberlin, während die Wuseltronik-Ingenieure im Westberlin tätig waren. Lemoines Motto, "Scheiß auf den Kommerz. Lass uns was Richtiges machen" wird im Bericht mehrmals zitiert (u.a. auf S.94). Ende der 1980er begannen die Ingenieure als deklarierte Atomkraft-Gegner mit Solartechnik. Das war Pioniertätigkeit, und es musste viel Technik selbst produziert werden. Geld konnte man so nicht verdienen.

Steg und Bogen

Monika Marons Bericht "Bitterfelder Bogen" auf dem Pernerstorfer Steg. Foto: A. Ghoneim

Der Band, den ich nun schon lieb gewonnen habe, begleitet mich auch zur ÖDaF-Tagung, die an der Pädagogischen Hochschule Wien stattfindet. Neben fachlichen Entdeckungen, nutze ich eine Tagungspause um bei wunderschönem Frühlingswetter die Umgebung des Tagungsortes im 10. Bezirk zu erkunden. Ich gehe über den Pernerstorfer Steg zur Heuberggstätten. Es ist nicht warm genug zum Lesen, aber ich lasse den Wind in den Seiten blättern während ich das Buch fotografiere.

Nach der Tagung lese ich weiter im Bericht von Monika Maron, das mit Fotos von Jonas Maron illustriert ist. Auf den Seiten 68-69 ist ein Bild mit dem Titel "Auf dem Bitterfelder Bogen", das eine ähnliche Perspektive zeigt wie das Bild oben - allerdings gehen Menschen auf dem Bogen, und kein Buch liegt herum. Monika Maron beschreibt das Artefakt so:

"Vom Ufer der Goitzsche sieht man auf einem bewaldeten Hügel ein großes stählernes Gebilde, das aussieht wie ein umgebogener, seiner technischen Grazie beraubter Eiffeltrum oder wie ein Industriegigant, der sich keinem Zweck zuordnen lässt [...], der in jedem Fall aber Neugier erweckt. [...] Das ist der Bitterfelder Bogen, das neue Wahrzeichen Bitterfelds, erfahre ich [...]. Auf einer ehemaligen Abraumhalde wölbt sich der schöne Koloss über eine Weite von siebzig Metern. Ein halber Kilometer Fußweg über engmaschige Gitterroste führt in sanften Schrägen auf eine Plattform von achtundzwanzig Metern Höhe, wo sich ein Anblick über Wälder und Seen bis in die Dübener Heide öffnet, der wohl auch Skeptiker erkennen lässt, dass Bitterfeld seinen schlechten Ruf nicht mehr verdient." (S.126)

Ich räume ein: mit dem Pernerstorfer Steg lässt sich der Bitterfelder Bogen somit nicht wirklich vergleichen.

Solarenergie: von Bitterfeld zum weltweiten Konzern

Wie aber ging es weiter mit der Region um Bitterfeld und den Berliner Solarenergie-Enthusiasten?

Nach dem Mauerfall wurden praktisch alle Betriebe in Bitterfeld "abgewickelt", viele Arbeitsplätze gingen verloren, und die Beschäftigung bei Abriss- und Sanierungsarbeiten war nicht langfristig. Die Region Bitterfeld-Wolfen warb in den 1990er Jahren um Betriebe, die sich ansiedeln sollten. In Thalheim siedelte sich die von Lemoine und weiteren Wuseltronik-Ingenieuren gegründete Firma Q-Cells an. Lemoine konnte "auf den Kommerz nicht mehr scheißen [...], weil Solaranlagen bezahlbar sein mussten, wenn sie der Welt, auch ihren abgelegenen Gegenden, wo keine Stromnetze hinreichen, Unabhängigkeit bescheren sollten [...]" (S.55). Lange blieb der Enthusiasmus der Gründerzeit dem schnell wachsenden Team erhalten, und auch die Region war (jedenfalls noch zur Zeit, als Monika Marons Bericht entstand) glücklich mit der großen Firma. "Denn die Welt der Investoren kann der Region geben, was sie am dringendsten braucht: Arbeit und eine industrielle Zukunft." (Petra Wust, Oberbürgermeisterin von Bitterfeld-Wolfen, S.63). Während sich Monika Maron wegen der Wirtschaftskrise 2008 noch Sorgen um Q-Cells und seine Tochter- und Partnerbetriebe macht, hat das Unternehmen mittlerweile eine zweite Konzernzentrale in Südkorea und über 40 Standorte weltweit.

Im Herbst 2005 war Q-Cells an die Börse gegangen. Reiner Lemoine war damals schon krank, aber er entwarf noch ein Konzept für eine Stiftung, die er gemeinsam mit seiner Frau, Anne Jatzkewitz im September 2006 gründete. Sie dient "der Förderung der Wissenschaft und Forschung, der Bildung und Erziehung sowie der Entwicklungshilfe im Bereich der regenerativen Energien" (S.170). Lemoine hat noch selbst in Bihar (Indien) zwei kleine Solaranlagen für die Beleuchtung eines Krankenhauses mit Waisenhaus aufgebaut, und einer seiner Kollegen meint, "dass es ein größeres Erlebnis sein kann, so eine kleine Anlage zu errichten als eine ganze Solarfabrik, weil die Menschen, die bis dahin nur Kerzen hatten, sich so unglaublich über das Licht gefreut haben." (S.172)

Wer aber wird sich über dieses Buch freuen? Ich versuche einmal Elisabeth, mit der ich die Schmidt-Dengler-Vorlesung zur Literatur der DDR gehört habe, für Monika Marons Bericht zu begeistern. Ich habe das Buch sehr gern gelesen, die Vernetzung der Geschichte einer Region mit jener von Gründer*innen, die aus einer Vision so Großes gemacht haben, ist faszinierend.

Verfasserin: Andrea Ghoneim

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