Französische Kindheitserinnerungen und Bad Ischl

Marcel Pagnol. La gloire de mon père. Souvenirs d'enfance. Presses Pocket: Paris, 1976.

Endlich Urlaub! Ich habe die Pension Waldesruh in Bad Ischl gebucht und lasse mich bei der Auswahl meiner Urlaubslektüre davon inspirieren, dass die Pension von einem österreichisch-französischen Paar geführt wird. Gewiss gibt es da französischsprachige Gäste - und somit eine gute Gelegenheit, ein Buch auf Französisch aus meinem Regal unter die Leute zu bringen.

Nachdem ich mir gleich mehrere Bücher aus dem Regal genommen hatte, werde ich bescheidener: Da ich ja auch wandern will - und außerdem immer das eine oder andere Geschriebene vor Ort auflese - wird ein Buch wohl reichen. "La gloire de mon père" von Marcel Pagnol wandert in den Wanderrucksack. Habe ich es je gelesen? Ich glaube, mich erinnern zu können, dass unsere Französischlehrerin Marcel Pagnol erwähnt hatte. Daraufhin habe ich mir wohl bei günstiger Gelegenheit dieses Buch gekauft. Wenn ich genauer hinsehe, hat es ein Preisschild von 1998. Ich erinnere mich: da war ich in Paris, um die INST-Konferenz "Internationale Kulturwissenschaften - International Cultural Studies - Etudes culturelles internationales" vorzubereiten...

Aber nun sind das Buch und ich in Bad Ischl. 

"La gloire de mon père" auf dem Balkon der Pension Waldesruh im Sept. 2022. Bild: A.Ghoneim

Es steht am Balkon, dann sitze ich mit ihm am Balkon und lese das Vorwort. Marcel Pagnol war zunächst Autor von Theaterstücken und Filmdrehbüchern. In "La gloire de mon père" schreibt er, dass er das erste Mal in längerer Form in Prosa schreibt. Was ist nun anders? Er stellt sich vor, dass der wahre Leser ("le vrai lecteur", S. 11) fast immer ein Freund ist. Und weiter:

M. Pagnol. Op.cit., S. 12 (Avant-Propos)

In Bad Ischl lese ich wenig. Im Zentrum stehen Wanderkarten und Wanderbeschreibungen. Das Buch von Pagnol dümpelt freundlich und auf Basis fröhlich-genauer Beschreibungskunst durch Präliminarien (die Geburt von Marcel in Aubagne, die Menschen aus der Provence, ...). Am Ende reist das Buch wieder mit mir nach Hause. Ich nehme ein schönes Zitat zu dem, was Erfolg ist, von der Zugfahrt mit:
Ein sehr alter Freund seines Vaters, der als erster aus dem Ort die Ècole Normale abgeschlossen hatte, blieb von Beginn seiner Berufslaufbahn an bis zu seiner Pensionierung an derselben Schule in einem "quartier pouilleux" in Marseille. Eines Abends entspinnt sich folgender Dialog zwischen Marcels Vater und dem Freund:

- Tu n's donc jamais eu d'ambition?

- Oh mais si! dit-il, j'en ai eu! Et je crois que j'ai bien réussi! Pense, qu'en vingt ans, mon prédécesseur a vu guillotiner six de ses élèves. Moi, en quarante ans, je n'en ai vu que deux, et une gracie de justesse. Ça valait la peine de rester là. (S. 26f)

Das ist für mich vielleicht das schönste Zitat aus dem Buch, da es berufliche Erfolge - in diesem Fall die eines Lehrers - aus der Perspektive darstellt, die ich schätze: die Entwicklung der Schüler*innen ist der Erfolg der/des Lehrenden.

Der Hauptteil des Buches ist dem ersten Sommerfrische-Sommer des Schülers Marcel gewidmet. Er lebt mit seiner Familie in Marseille. Der Vater hat gemeinsam mit seinem Schwager eine "Villa" für den Sommer gemietet, und auf abenteuerliche Weise begibt sich die Familie in diese gar nicht so fern liegende Sommer-Behausung. Es sind noch die Zeiten von Pferdefuhrwerken und Fußmärschen, die auch aus geringen Distanzen Abenteuer machen. Der Rest der Erzählung ist mit Indianerspielen mit dem kleinen Bruder und anderen Ferienvergnügungen gespickt, bis er in einem Jagdausflug des "Onkels" mit dem Vater gipfelt. Heute wären solche Jagdabenteuer weder möglich noch politisch korrekt - und sie ließen sich vielleicht sogar retrospektiv weniger gut und spanend lesen, wenn nicht ein 8-jähriger Bub den erwachsenen Männern nachschliche. Dabei verirrt er sich, findet aber dann doch wieder - dank fallender Steinhühner (bartavelles) - zu den Hobby-Jägern zurück und überbringt diesen die kostbare Jagdbeute. Mit Augenzwinkern und Waidmannsgarn geht die Geschichte des Sommers (und mit ihr auch das Buch) zu Ende. 

Es gäbe noch 3 Bände mit Erinnerungen von Marcel Pagnol. Aber ich weiß nicht einmal, wem dieser Band gehören soll, der ja wieder mit mir von Bad Ischl nach Wien zürück gereist ist. Ich peile den offenen Bücherschrank auf dem WU Campus an. Vielleicht kann ja der eine oder die andere Student*in der französischen Wirtschaftskommunikation auch einmal eine Lektüre aus lange vergangener Zeit gebrauchen.

Verfasserin: Andrea Ghoneim


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