Japan in Erdberg

Judith Brandner. Japan. Kratzer im glänzenden Lack. Reportage. Wien: Piper, 2011.

Japan, 2011. Da mag manch einer an den Tsunami und die Katastrophe in Fukushima denken. Wenn eine Sammlung von Reportage-Texten über Japan im Jahre 2011 erscheint, bedeutet dies allerdings, dass die Texte schon davor geschrieben wurden. Wer in Judith Brandners Buch schmökert, wird daher in ein Japan im ersten Jahrzehnt des 2. Jahrtausends versetzt. Wer aber liest eine Art Reisebuch, das schon 10 Jahre alt ist? Ich tue es zwar, habe das Buch allerdings auch schon vor langer Zeit geschenkt bekommen. Die Picus Lesereisen, zu denen dieser Band gehört, waren immer gute Möglichkeiten, im Kopf zu verreisen, also wünschte ich sie mir - und bekam sie geschenkt. Offensichtlich habe ich es dann nicht geschafft, alle dieser schönen (und auch leicht mitnehmbaren) Bändchen zu lesen. Nun habe ich das Buch über Japan nach Erdberg mitgenommen, wo ich eine Wohnung sitte.

"Kratzer im glänzenden Lack" lautet der Untertitel, den ich nicht gerade als Verführung zum Lesen empfinde. Ok, Menschen, die Japan besser kennen, mögen auch an den angekratzten Seiten des Landes interessiert sein - aber meine Kenntnisse über Japan sind ziemlich überschaubar. "Sprachlos in Japan" von Sabine Scholl habe ich gelesen. Darin werden Erfahrungen einer Gastdozentin in Japan beschrieben; ich erinnere mich an eine neugierig-liebevolle (wenngleich durchaus kritische) Annäherung an eine "andere" Kultur und Reflexion des eigenen Selbst in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in Japan. 

So ist das Japan-Buch aus dem Picus-Verlag nicht. Die Autorin, Judith Brandner, widmet zwar das Anfangskapitel "ihrer" japanischen Familie, und dies ist durchaus als Liebeserklärung zu lesen. Dann aber sind die Themen der Reportagen geprägt von Working Poor, Obdachlosen, Tagelöhnern (die auch eine Gewerkschaft haben) und dem problematischen Umgang Japans mit der eigenen Vergangenheit. Dies sind durchaus wichtige Themen, und die Autorin widmet sich ihnen auf Basis gut ausgewählter Gesprächspartner*innen, die den Texten nicht nur Authenzität verleihen, sondern auch Leben, sodass ich trotz der nicht so ersprießlichen Thematik nicht aufhöre, zu lesen.

Was aber ist heute noch gültig? Ich fürchte, dass Japan seine Vergangenheit noch immer anders sieht als andere Nationen, bin aber zu faul, dies zu recherchieren und bleibe somit möglicherweise in einem Vorurteil verhaftet. Eine Reportage berichtet über Internetcafé-Flüchtlinge. Internet-Cafés gibt es nun zwar nicht mehr, allerdings dürften die Manga-Cafés deren Rolle - inklusive der Möglichkeit einer billigen Übernachtung - übernommen haben. Auch Tagelöhner gibt es scheinbar noch immer ...

Einen Text zu Haruki Murakami (den Judith Brandner 2004 in Tokio traf) und Kenzaburo Oe gibt es auch. Kenzaburo Oe wurde 1994 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Brandner beschreibt ihn als "kritischer Beobachter der Gesellschaft, aktiv in der Anti-Atom- und der Friedensbewegung, ..." Die Japaner*innen scheinen sich (2011) nicht so sehr für die Bücher des Nobelpreisträgers zu interessieren. Vermutung: "gegen die Konkurrenz der Manga kommt Oe einfach nicht an, und auch von den Auflagenzahlen eines Haruki Murakami ist er meilenweit entfernt". Murakami hat 2021 einen Erzählband vorgelegt, der - so die Süddeutsche Zeitung - nicht die "weitflächige Trance" ermöglicht, "in die einen Bücher wie "Mister Aufziehvogel" oder "IQ84" führen können". 2010 (um in die Zeit zurückzukehren, als das vorliegende Japan-Buch zusammengestellt wurde) war übrigens der dritte Band von Murakamis "1Q84" erschienen...

Das Japan-Buch im Restaurant Hitomi. Foto: A.Ghoneim

Als ich Judith Brandners Reportagen aus/zu Japan fertiggelesen hatte, nahm ich das Buch mit auf einen Spaziergang, der mich von Erdberg auf die Landstraße führte. Nur zufällig kam ich in das Sushi-Lokal - und fand es eine schöne Örtlichkeit für ein Abschiedsfoto.

Morgen nehme ich das Buch mit in die Arbeit. In unserem Sozialraum können wir auf einem Tischchen Dinge ablegen, die vielleicht noch für andere von Interesse sind. Also werde ich mir ansehen, ob das Büchlein aus dem Picus-Verlag dort jemanden finden kann, der es mitnehmen mag.

Verfasserin: Andrea Ghoneim

Kommentare

  1. Ich nahm es mit :-) und bin ganz begeistert von den Reportagen die mich in ein ganz anderes Japan mitnehmen, als ich es sonst kenne. Und gerade heute waren wir im Bonsai-Museum bei Seeboden, wo uns der Besitzer erzählte, dass er nur deshalb einige ältere Bäume aus Japan erhalten habe, weil es dort mittlerweile schwer sei noch Menschen zu finden, die sich an die Schnitt-Pflege eines Bäumchens binden möchten. Der Gesellschaftswandel geht also weiter. Eine spannende Reise. Danke Andrea für dieses Buch.

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  2. Danke für den Kommentar! Das ist der erste Kommentar auf diesem Blog, und wird schon allein deshalb gefeiert. Noch schöner aber ist, dass das Buch wieder eine Liebhaberin gefunden hat!

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