Perlen für den offenen Bücherschrank

Mempo Giardinelli und Wolfgang Eitel (Hrsg.). Fallen die Perlen vom Mond? Lateinamerikanische Liebesgeschichten. München, Zürich: Piper, 1991.

Ich mag Erzählungen und Kurzgeschichten als Bettlektüre. Sie haben etwas von der Länge her Überschaubares - ich muss mir also keine "Sorgen" machen, in ein spannendes Werk von großem Umfang einzutauchen und mir im Leserausch die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen. In der kleinen Form nehme ich mir eine kurze Auszeit - und gleite mit dem Ende der Geschichte in den Schlaf. 

Dennoch: Die Kollektion "Lateinamerikanischer Liebesgeschichten" mit dem Haupttitel "Fallen die Perlen vom Mond?" ist einfach irgendwann in meinem Bücherregal gelandet und wurde nicht gelesen. War der Sammelband ein Geschenk? Habe ich ihn gekauft, nachdem ich die wunderbare Anthologie "AMORica Latina. Mein Kontinent, mein Körper" rezensiert hatte? Aus Begeisterung für die lateinamerikanische Literatur? Beide Anthologien sind 1991 erschienen.

Durch meine Erinnerung an "AMORica Latina" fallen die "Perlen" vor einigen Wochen jedenfalls wieder in meine Hände. Das Buch könnte etwas für Julia sein, die sich unter anderem mit dem weiblichen Körper beschäftigt... Aber zuerst lese ich das Buch natürlich selbst.


"Fallen die Perlen vom Mond" hat den Platz neben meinem Kopfpolster verlassen und sonnt sich vor einer Rose."Fallen die Perlen vom Mond" hat den Platz neben meinem Kopfpolster verlassen und sonnt sich vor einer Rose am Fenster. Bild: A.Ghoneim

Der argentinische Autor und Publizist Mempo Giardinelli und der deutsche Romanist Wolfgang Eitel sammelten über einige Jahre Erzählungen, "die einen Eindruck von den verschiedenen lateinamerikanischen Landschaften vermitteln" und "die vielfältigen Facetten der Liebe und ihre verschiedenartigen Möglichkeiten aufzeigen" (S.8.). Auch due verschiedenen Sprachen, die in Lateinamerika gesprochen werden (neben Spanisch und Portugiesisch auch Französisch in der Karibik).
Mempo Giardinelli findet in seinem Vorwort auch schöne Worte für die Erzählung als literarische Gattung, unter anderem meint er, dass die Menschen "doch stets zehn oder fünfzehn Minuten Zeit haben werden, um sich an einer gut erzählten Geschichte zu erfreuen" (S.9)

Die Herausgeber haben 50 Erzählungen in "Fallen die Perlen vom Mond" versammelt. Das Buch beginnt mit "Frauenarme" von Machado de Assis, einer zauber- und traumhaften Geschichte einer Liebe eines sehr jungen Mannes zu den Armen seiner Gastgeberin. Es endet mit Reina Roffes Erzählung "Flut", die einen Blick in den Ehealltag eines Mannes, der mit einer Frau verschmelzen will, die gern für sich allen ist eröffnet. Die Geschichte etwas, das an den realismo mágico erinnert und fesselt, obwohl (oder weil?) die Bilder mit denen sie arbeitet, nahezu unangenehm sind.

Das Buch enthält viele gute Erzählungen, und ich freue mich, wieder einmal etwas von Julio Cortázar, Jorge Luis Borges und Gabriel García Márquez zu lesen. Auch von Mempo Giardinelli gibt es eine Erzählung, die mir sehr gut gefällt: "Appassionata Nummer Null".

Aber warum sind so viele der Geschichten von Männern verfasst? Die Perspektive auf das Thema "Liebe" und insbesodnere auf Erotik ist damit vielfach auch sehr männlich... Es finden sich folgende Autorinnen: Monteiro Lombato, Lygia Fagundes Telles, Clarice Lispector, Martha Mercader, Angélica Gorodischer, María Esther de Miguel, Elena Poniatowska, Nélida Piñon, Marta Nos, Sônia Coutinho, Tununa Mercado, Rima de Vallbona, Cristina Peri Rossi, Reina Roffe. Vierzehn Frauen erzählen. Ein knappes Drittel der Texte stammt also von Frauen. Viel besser wäre das Verhältnis in einer deutschsprachigen Anthologie wohl auch nicht. In "AMORica Latina" wurden nur Texte von Frauen gesammelt und es entstand eine ganz andere Atmosphäre beim Lesen.

Der für mich beste Text in "Fallen die Perlen vom Mond" ist die Erzählung "Eine Kochstunde" von Rosario Castellanos (S. 214-228). Erzählt wird in Ich-Form aus einer Küche, die "strahlt vor lauter Weiße". Offensichtlich ist die Protagonistin frisch verheiratet, und, obwohl es ihr leid tut, die so "makellose" und "neutrale" Küche zu benutzen, beginnt sie, einen Braten zuzubereiten. Das rote Fleisch erinnert sie allerdings an ihre Flitterwochen, daran, wie sie sich auf ihren nach "orgiastischen Sonnenbädern" roten Rücken legt. "So ertrug ich nicht nur mein Gewicht, sondern auch seines. Die klassische Stellung für die Liebe. Und ich stöhnte vor Schmerzen, vor Lust. Das klassische Stöhnen. Alles Mythen, Mythen." Die beobachtend-reflektierenden Bemühungen um den Braten werden immer wieder mit Betrachtungen zu Rollenbildern durchsetzt. Ironie würzt die Erzählung. Die Ergebnisse der Braten-Zubereitung fasst die Erzählende so zusammen:
"Es erscheint zunächst ein Stück Fleisch in einer bestimmten Farbe, Form, Größe. Dann verändert es sich und wird schöner, und man freut sich sehr darüber. Und es verändert sich weiter und weiter, und man schafft es nicht mehr, dem rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Und wenn ich dieses Stück Fleisch unendlich lange dem Feuer überlasse, verbrennt es und verschwindet spurlos. Und das Stück Fleisch, das so solide und real erschien, ist nicht mehr." (S. 225)
Mit Überlegungen dazu, welche Rolle sie in ihrer Beziehung einnehmen wird und will, gleitet die Erzählung in einen Raum, der als Ende bezeichnet werden kann und der doch ein Raum des Denkens ist, den die Lesenden betreten, und in dem auch die Ich-Erzählerin noch verweilt.

Es gibt mehr als diese eine gute Erzählung in diesem Buch, aber es ist dennoch nicht das, was ich Julia geben wollte. Es ist ein Buch für den offenen Bücherschrank. Bereits während dieses Text-"Denkmal" für "Fallen die Perlen vom Mond" entstand, wurde ein solcher Ort des Bookcrossings ausprobiert.
Offener Bücherschrank vor der Altlerchenfelder Kirche. Bild: A. Ghoneim

Ich bin ein großer Fan der offenen Bücherschränke und habe ihnen schon vieles gegeben und einiges entnommen. Vermutlich werden diese Bücherschränke in meinem Blog noch öfter vorkommen. Und Julia? Wir werden sehen...

Verfasserin: Andrea Ghoneim

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