Das Meer, das Mittelmeer - und zwei Geschichten, die einander begegnen

Margaret Mazzantini. Das Meer am Morgen. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Köln: DuMont, 2012.

Es ist Oktober 2019 und ich mache kurz Urlaub in Laa an der Thaya. Im Gepäck: ein etwas älteres, noch ungelesenes Buch aus meinem Bücherregal. Es heißt "Das Meer am Morgen" und der Titel scheint gut zum Thema Urlaub zu passen. Immerhin gibt es in Laa auch Wasser, nicht zuletzt in der Therme.

Zunächst vergnüge ich mich in Laa mit allerlei Dingen am Computer (vormittags, bis der Nebel weg ist) und mit Spaziergängen und einem Rad-Ausflug in der wässrigen Sonne, die den Tag etwa ab der Mittagszeit erhellt. Ob ich abends viel gelesen habe? Ich erinnere mich nicht.

In meiner Erinnerung beginne ich die Lektüre von Margaret Mazzatinis Roman erst an meinem letzten Tag, den ich im "Silent Spa" der Therma Laa verbringe. 

Hier posiert das Buch am Wasser der Therme
Das Buch hat mit 128 Seiten die ideale Länge für einen Badetag. Falls der Begleiter im Bad allerdings nur heiter sein darf, passt es nicht ganz. Aber das wusste ich bereits durch den Klappentext, und es machte mir nichts aus.
Mit einem Teil der Geschichte von Farid und Jamila beginnt der Roman.

"Farid hat das Meer nie gesehen, ist nie hineingetaucht. [...]" (S.7)


Farid sieht das Meer im Sommer 2011, als er mit seiner Mutter aus Libyen fliehen muss. Nach einer Reise durch die Wüste, eingepfercht in einen Lastwagen und zu Fuß, ist es so weit:
"Farid schaut auf Meer. Zum ersten Mal in seinem Leben. Er berührt es mit den Füßen, schöpft es mit seinen Händen. Er trinkt es und spuckt es aus." (S. 28)
Alle Fliehenden steigen in einen "großen, rostigen Kahn", der eher einem "umgekippten Bus" ähnlich sieht. Farid erlebt das Meer bei Tag und in der Nacht, wenn es schwarz ist und die Kälte in die Körper auf dem Boot kriecht. Gedanken an die Gazelle, die bis zu seinem Haus gekommen war werden zu Träumen...
Vito und seine Mutter Angelina leben in Sizilien. Vitos Mutter ist in Libyen aufgewachsen, in einer jener italienischen Familien, die in Tripolis lebten und 1970 von Gaddafi ausgewiesen worden waren. Auch Vito schaut aufs Meer - ein einer Rückblende auf einen faulen, freien Sommer seiner Kindheit und in der Gegenwart. Dazu lese ich auf Seite 40:
"Heute ist er in T-Shirt und Hosen, Wind ist aufgekommen.
Vito wirft einen Blick auf das Strandgut, auf Bootsteile und alles andere, was auf den Strand gespuckt wurde, der aussieht wie eine Müllhalde des Meeres. 
Auf der anderen Seite des Meeres herrscht Krieg. [...]"


Und weiter:
"Er hat in diesem Sommer kein einziges Stück Thunfisch gegessen, und auch keine Meerbrasse. Nur Eier und Spaghetti. Der Gedanke daran, was die Fische fressen, gefällt ihm nicht. [...] (S.41)



In "Das Meer am Morgen" werden die Geschichten von Vito und Farid und ihren Müttern ent-hüllt, Stück für Stück freigelegt, in wunderschöner Sprache, so, dass sie fesseln und unter die Haut gehen. Sie sind nur durch das Mittelmeer und eine Art Memorial-Kunstwerk miteinander verknüpft.

Ich erzähle hier nicht zu Ende. 

Dieses Buch bekommt Gundel, die als erste einen Kommentar zu meinem Blog hinterlassen hat. Ob sie wusste, dass es 1938 eine Auswanderungswelle nach Libyen gab? Ich wusste es nicht. Aus Margaret Mazzatinis Roman nehme ich viel mit. Nicht zuletzt die folgenden Zeilen:
"Vito schaut aufs Meer. Seine Mutter hat einmal gesagt, du musst dir einen Ort suchen, in dir und um dich herum. Einen Ort, der zu dir passt.
Der so ist wie du, zumindest teilweise." (S. 42)

Verfasserin: Andrea Ghoneim
P.S.:
Einen weiteren Blogpost zu Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen (erschienen 2018) habe ich bei Literatur im Fenster gefunden. In Buzzaldrins Bücher erschien ein Blogpost zum Buch in dessen Erscheinungsjahr (2012), der Blog-Autor empfand die Bilder im Roman allerdings als zu intensiv und sieht dadurch die Tiefe des Werks verwässert. Im Archiv des Deutschlandfunk lese ich hingegen unter dem Titel "Familienschicksale zwischen Libyen und Italien" über die Sprache, in der Mazzantini erzählt, sie sei "blendend und auf das Wesentliche beschränkt – wie das Wüstenlicht" (Bettina Hesse, 2012). Ein Buch, das so unterschiedlich beurteilt wird, ist jedenfalls lesenswert.


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