Versuch einer Musikcollage zum collagenhaften Roman

Ulrich Peltzer. Das bist du. Roman. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2021

Es ist Juni 2021 und ich suche immer noch nach einem guten Geburtstagsbuch für Astrid, die im März Geburtstag hatte. Eine Buchkritik aus der Wiener Zeitung bringt mich - wie ich meine - auf eine heiße Spur: Ulrich Peltzer beschreibe das Berlin der 80er Jahre, oder, wie in der Rezension zusammengefasst "das West-Berlin der Post-Punk-Ära". Das kingt gut, das will ich haben!

Bücher, die ich nicht kenne, verschenke ich nicht gerne, also besorge ich mir den Roman von Peltzer zunächst, um ihn selbst zu lesen. Es ist heiß, die ideale Zeit für ein Buch, das so aufgebaut zu sein scheint wie ein schnell geschnittener Film. Ich lese "Das bist du" tatsächlich sehr gern, bin aber nicht sicher, ob dies mit der Qualität des Textes zusammenhängt oder damit, dass in mir eine Menge Assoziationen zum Wien der 80er wach werden - einer Zeit, in der alles möglich schien und vieles möglich war. In Peltzers Roman studiert der Protagonist mehr oder weniger (Psychologie) und wird irgendwann doch tatsächlich mit dem Studium fertig. Nichtsdestotrotz nutzt er dann nicht das Studium für seine Berufswahl, sondern folgt seiner Liebe zu Filmen und wird Filmvorführer. Es gibt im Roman auch immer den Roman, den er schreiben wird. Und dann ist da recht dominierend die Geschichte seiner großen Liebe zu Leonore, die ich hier nicht "spoilern" will, für alle, die das Buch vielleicht noch lesen wollen. 

Mir gefiel die Erinnerung an diese Offenheit der 80er Jahre, als es noch sehr viele Berufe gab, die ohne Ausbildung einfach ergriffen werden konnten. Und ich war beeindruckt vom musikalischen Name-Dropping, wenngleich ich mich dabei fragen muss, wie sich jemand, der nicht in den 80ern Musik gehört hat, eine Atmosphäre vorstellen kann wie: "[...] im alten Dschungel, nach dem Konzert von Joe Jackson, als ich bei Karla am Tresen stand, [...] (S.8) War das Joe Jacksons Tour zu Steppin' out? Ich glaube, ich habe ihn auch einmal live gesehen, in den 80ern, in Wien.

Siouxsie and the Banshees habe ich durch ein T-Shirt kennengelernt, das mir mein damaliger Freund aus London mitgebracht hatte. Da der Freund Plattenverkäufer war, haben wir sicher auch einiges von ihnen gehört. Könnte Night Shift dabei gewesen sein?

"All Tomorrow's Parties" von Lou Reed (in "Das bist du" kommt er auf S. 16 vor) wurden von Siouxsie and the Banshees auch gecovert, aber erst später, in den 90ern. Ich bin da mehr auf die Version von The Velvet Underground & Nico konditioniert - von der Platte mit dem Warhol-Cover (mit der Banane), von der Mitte der 80er von meinen Freunden (damals noch ohne Binnen-I, es waren auch nicht so viele Frauen dabei) ohnehin immer irgendwas gespielt wurde, manchmal lief die die Platte auch einfach in der Endlosschleife (was damals hieß, entweder nur eine Seite davon immer wieder abzuspielen oder sie - zumindest gelegentlich - auch umzudrehen).

Drumming von Steve Reich (S. 35) ist eine der weiteren Sound-"Unterlagen" für den Roman. Der Protagonist hört es beim Schreiben am Küchentisch und schreibt auf, was er sieht: "Leere Bierdosen, Zeitungen, Zigaretten, zerknüllte Zigarettenpackungen, ein Metalldeckel als Aschenbecher, irgendwelche Blätter, zwei, drei Taschenbücher, Streichhölzer, Stifte, ..."

Ach, es gibt viel Musik in dem Roman von Ulrich Peltzer, und eine seriöse Playlist daraus zu machen wäre ein weit größeres Projekt, als ich es derzeit in Angriff nehmen wollte oder könnte. Und die vage Idee, die Musik, über die ich durch das Name-Dropping von Peltzer erfahre, so so beschreiben, dass auch Lesende, die wenig mit dem Muskcocktail der 1980er vertraut sind, gedanklich eintauchen können in einen Soundteppich, der "meine" 80er Jahre in Wien ebenso begleitet hat wie den Protagonisten, will mir auch nicht recht gelingen.

Jetzt, wo ich in dem Roman herumblättere um nach zum Teil einfach hingeworfenen Bandnamen zu suchen, fällt mir auf, dass Ähnliches mit Texten gemacht wird - z.B. dem Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari. Für diesen Text gibt es dann aber immerhin eine Lesegruppe und der Anti-Ödipus bekommt somit fast eine halbe Seite. Auch Filmtitel flimmern förmlich durch den Roman, der sich somit als Recherchestartpunkt für eine Kulturgeschichte der 80er Jahre nutzen ließe. Das Kino "befreit" den Protagonisten

"von dem, was an mir zerrte. Wenn ich aus dem Saal auf die Straße trat, ganz gleich, aus welchem Film, war ich auf magische Weise versöhnt mit der Welt. Ein Gefühl, das für Tage audauerte, nachdem ich Chronik eines Sommers von Jean Rouch gesehen hatte. Obwohl der Film, ein Dokumentarfilm aus den sechziger Jahren, bestimmt keine Einladung war, alles um einen herum und auch sich selbst zu vergessen. Vielleicht ist es diese eine Szene gewesen, die mir noch deutlich vor Augen steht, als ein Moment der Überwältigung, der Schönheit, an dem nichts peinlich war, nichts Effekt... eine junge Spanierin, Gastarbeiterin, in ihrem Mietzimmer in Paris, die vor Glück weinen muss, weil sie jemanden getroffen hat ... und man war plötzlich ganz auf ihrer Seite, verstand alles, wie eine Offenbarung dessen, was ein Mensch sei. Dafür einen Ausdruck zu finden, durch jede Gegenwart hindurch, mit den Mitteln der Gegenwart, war das nicht die Kunst? Wie sollte man sonst begreifen können, was gerade passiert? Was die Zeit mit uns macht, fortwährend." (S.53)

Und nun, da ich das obige Zitat "erblättert" habe, bekommt der Romantitel für mich eine ganz besondere Bedeutung. In den 1980er Jahren hätte dieser Roman mir tatsächlich "Das bist du" zugerufen. Der Protagonist und ich haben (außer der Liebesgeschichte) vieles gemeinsam - sowohl den Rausch von viel Musik, Filmen und Büchern als auch die Schreib-Ambition. Leider ist bei mir beim Schreiben damals auch oft eher Name-Dropping herausgekommen, und diese collagenhafte Anordnung von Eindrücken, die so viel und so vielfältig sind, dass sich das Gesamterlebnis nicht immer beschreiben lässt. Und immer die Suche nach dem Ausdruck ...


Durch das Schreiben habe ich eine noch persönlichere Beziehung zu dem Buch aufgebaut, als ich sie im Sommer 2021 ohnehin schon hatte. Damals hat es mich in Rucksack oder Badetasche an einige schöne Orte in Wien begleitet, nicht immer wurde es dann auch gelesen. Einmal war es so heiß, dass ich mein Badetuch in meiner verhältnismäßig kühlen Wohnung ausrollte und hier mit dem Buch einen kleinen Leserausch auskostete. Und hier sind die Bruchlinien zu den 1980ern: Damals war nichts klein, und wenn doch, wollten wir davon nichts wissen.

Baba, lieber Peltzer-Roman! Ich verabrede mich jetzt mit Astrid, und dann gehörst du ihr. Nicht als Geschenk, sondern als Objekt eines Bookcrossings. Ich bin schon neugierig, was sie zu dir sagt!

Verfasserin: Andrea Ghoneim

 

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