Moderne Erzähler aus West und Ost 1. München: Goldmann, o.J. (Originalausgabe: Exkursionen. Erzählungen unserer Zeit. Hrsg. und übersetzt von Leonore Germann. München: Hanser, 1964)
Meine Urlaube scheinen immer näher an Wien heranzurücken... Viel Zeit hatte ich allerdings auch nicht für Grünbach am Schneeberg, das eigentlich an der Hohen Wand liegt (aber immer wieder wunderbare Blicke auf den naheliegenden Schneeberg ermöglicht). An einem Donnerstagnachmittag kam ich im Alpen-Aktiv Landgasthof zur Schubertlinde an, und am Sonntag ging es schon wieder retour nach Wien. Da ist es von Vorteil, wenn die Reisezeit (mit der Bahn) unter 2 Stunden liegt.
An Urlaubslektüre hatte ich unter anderem "Moderne Erzähler aus West und Ost 1" dabei, ein zartes Bändchen von 156 Seiten, das schon seit Ewigkeiten in meinem Bücherregal auf eine Leserin wartete. Ob es davor schon gelesen wurde? Und wo habe ich es her? Mein Exemplar ist wohl auch schon 1966 erschienen, jedenfalls lässt sich das auf Basis des Katalogeintrags der DNB vermuten.
Zwölf Erzählungen aus zehn europäischen Ländern sind in dem Band versammelt. Noch im Zug beginne ich die erste Erzählung, von A.L. Barker. Ein Junge schwimmt gern im Fluß und wird dabei Zeuge eines Unfalls, was er aber verheimlicht. So kurz lässt sich die der Inhalt von "Versunken" (Original: Submerged) zusammenfassen. Die Art, wie die Autorin die Stimmung am Fluss und im Dorf miterleben lässt und Leser*innen in die Geschichte hineinzieht, mit unerwarteten Wendungen, die auch nach der Lektüre nicht loslassen, zeigen die Qualität des Texts. Mit dem Band, aus dem "Submerged" entnommen wurde, hat A.L. Barker den ersten Sommerset Maugham Prize gewonnen - im Jahr 1947. 2014 wurde der preisgekrönte Band mit dem Titel "Innocents" bei Faber neu aufgelegt, eine recht ausführliche Leseprobe gibt es bei Google Books.
Lese"pause": Ich mache einen nicht ganz freiwilligen Orientierungslauf, indem ich durch die Johannesbachklamm wandere und den Rückweg nach Grünbach über die Burgruine Schrattenbach nehmen will. Ich erfreue mich der Ruhe und habe den Wald oberhalb der Klamm nahezu für mich allein, steige über einige vom Spätsommersturm umgeknickte Bäume, wandere weiter - und merke an einer Wegkreuzung, dass ich mich in ein (davor nicht als solches bezeichnetes) forstliches Sperrgebiet begeben habe. Nach einigen Versuchen, mich wieder aus dem Sperrgebiet zu manövrieren und weiteren Klettereien über gefallene Baumriesen lange ich glücklich in Schrattenbach an, leider habe ich aber die Ruine verpasst. Hier ist ein weiterer Vorteil der Nähe von Grünbach: Die Runde lässt sich auch als Tagestour nachholen.
Anderentags ist es zunächst neblig, was mir Zeit für weitere Lektüre gibt. "Im Theater" von Reinhard Lettau hat es mir besonders angetan. Ein absurd-grotesker Text, in dem die Menschen im Theater leben - ob aufgrund einer Notlage oder aus anderen Gründen, wird nicht angegeben. Der Ich-Erzähler erfährt von einem Bekannten, "daß man nachts Zuschauer mitsamt Gestühl in ungünstigen Winkeln des Hauses einfach abstellt." (S.[68]) In den Logen wird auch gegrillt, Freunde sind in "Wandschränken", indessen tritt ein Chor auf. Alles wird so lakonisch, im Plauderton, erzählt und beschrieben, auch ein Einbruch des Wassers im Theater. Und so endet der Text:
"Gibt es eine Vorstellung, die die Erwartung von vielen Wochen erfüllen kann? Die Scheinwerfer strahlen wieder auf, vielfältiger Widerschein, Glitzern, Lichtkringel auf den Wellen. Musik ertönt. Die Mimen erscheinen, öffnen den Mund, sprechen, singen, und singen noch. Wir treiben auf Flößen umher, und man zeigt uns eine Oper." (S.71)
Wann genau der Text ursprünglich erschienen ist oder ob er ein Originalbeitrag von Lettau für das Originalbuch war? Ich suche im Web herum, auch nach anderen Autor*innen in dem Band. Jedenfalls waren sie offensichtlich gut ausgewählt, denn jede und jeder, den/die ich nachverfolgte, konnte auch gefunden werden - und mit einer Reihe von weiteren Publikationen. Der einzige, den ich kannte, ist Erich Fried. Er ist im vorliegenden Band mit "Hausreise" mit einem Originalbeitrag vertreten. Ich mag seine Lyrik lieber...
Genug der Internetsuche und des Lesens! Ich mache mit dem Buch einen kurzen Ausflug in den auch im Herbst noch bezaubernden Terrassengarten meines Gasthofs, dann wandere ich zur Geländehütte.
Eigentlich hätte ich das Buch gern in der Offenen Bücherzelle Schrattenbach gelassen, aber ich war mit der Lektüre noch nicht ganz fertig, als ich Besuch von Freundinnen bekam, mit denen ich am letzten Tag bei wundervollem Wetter zur Scheimhütte gewandert bin.
Nun kann ich darüber nachdenken, ob ich das Buch aufbewahre, bis ich wieder nach Schrattenbach komme, oder ob ich die "modernen" Erzähler*innen nicht doch einer anderen offenen Bücherzelle anvertraue.
Falls sich inzwischen jemand meldet, der/die den Band haben möchte, gebe ich ihn auch gern persönlich weiter!
Als Entscheidungshilfe: Via DNB kann man sich auch das Inhaltsverzeichnis ansehen.
Verfasserin: Andrea Ghoneim
Kommentare
Kommentar veröffentlichen